20. Februar 1933: Auf Einladung des Reichstagspräsidenten Hermann Göring finden sich 24 hochrangige Vertreter der Industrie zu einem Treffen mit Adolf Hitler ein, um über mögliche Unterstützungen für die nationalsozialistische Politik zu beraten: Krupp, Opel, BASF, Bayer, Siemens, Allianz – kaum ein Name von Rang und Würden fehlt an den glamourösen runden Tischen der Vermählung von Geld und Politik. So beginnt der Lauf einer Geschichte, die Vuillard fünf Jahre später in die Annexion Österreichs münden lässt. Bild- und wortgewaltig führt er den Leser in die Hinterzimmer der Macht, wo in erschreckender Beiläufigkeit Geschichte geschrieben wird. Dabei erzählt er eine andere Geschichte als die uns bekannte, er zeigt den Panzerstau an der deutschen Grenze zu Österreich, er entlarvt Schuschniggs kleinliches Festhalten an der Macht, Hitlers abgründige Unberechenbarkeit und Chamberlains gleichgültige Schwäche. Mit der ihm eigenen virtuosen Eindringlichkeit und satirischem Biss seziert Vuillard die Mechanismen des Aufstiegs der Nationalsozialisten und macht deutlich: Die Deals, die an den runden Tischen der Welt geschlossen werden, sind faul, unser Verständnis von Geschichte beruht auf Propagandabildern. In »Die Tagesordnung« zerlegt Éric Vuillard diese Bilder und fügt sie virtuos neu zusammen: Ein notwendiges Buch, das eine überfällige Geschichte erzählt und damit den wichtigsten französischen Literaturpreis erhielt. Éric Vuillard Die Tagesordnung Matthes & Seitz Verlag Originaltitel: L'Ordre du Jour (Französisch) Übersetzung: Nicola Denis Weiter Titel von Vuillard sind Die Traurigeit der Erde; Eine Geschichte von Buffalo Bill Cody und Ballade vom Abendland. Beides auch im Matthes & Seitz Verlag erschienen. »Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag« Hans Höller & Arturo Larcati, Piper Verlag, 2016. Die Geschichte von "Böhmen liegt am Meer" ›Zufällig‹ wird Ingeborg Bachmann Anfang Jänner 1964 in Berlin von einem ihr noch kaum bekannten jungen Mann zu einer Reise nach Prag eingeladen. Sie sagt zu, und auf dieser Reise beginnt sie das Gedicht zu schreiben, das »Böhmen liegt am Meer« heißen wird. Die Geschichte der Entstehung dieses Gedichtes zeigt, was für sie Leben und Schreiben bedeuteten. Sie musste damals beginnen, wieder ins Leben und zum Schreiben zurückzufinden. Nach dem beinah tödlichen physischen und psychischen Zusammenbruch in Zürich Ende 1962 erhielt das Gedichteschreiben einen lebensgeschichtlichen Augenblick lang eine neue Notwendigkeit. Wenn man es genau nimmt, dauerte dieser Augenblick bis 1973, von den ersten schnell hingeworfenen Gedichtentwürfen aus der Zeit der Klinikaufenthalte Ende 1962, Anfang 1963 bis zu dem begeisterten Gespräch über »Böhmen liegt am Meer« im großen Interview mit Gerda Haller, aufgenommen für ein Filmporträt im Juni 1973, wenige Monate vor ihrem Tod. Für diese Aufnahmen hat sie auch das Gedicht noch einmal vorgelesen. In unseren Recherchen haben wir entdeckt, dass »Böhmen liegt am Meer«, von der Autorin als einzigartiger Glücksfall bezeichnet,[1] nicht allein dasteht, sondern dass es zu einem bis jetzt unentdeckt gebliebenen Gedichtzyklus von ihrer Winterreise nach Prag gehört. Dieser beginnt, in der Chronologie der Reise, mit »Auf der Reise nach Prag«, aus dem zwei Jahre später »Enigma« hervorgeht. Das siebte, abschließende Gedicht heißt »Heimkehr über Prag«. Der Titel des Eingangsgedichts spielt auf Eduard Mörikes Künstlernovelle Mozart auf der Reise nach Prag an, so dass Bachmanns Reiseroute auch durch den »Zauberatlas« führt, »den nur die Literatur sichtbar macht«. Und so gibt es das Illyrien Shakespeares, das wir in »Böhmen liegt am Meer« wiederfinden, »aber Shakespeares Illyrien deckt sich nicht damit«,[2] und so gibt es »Böhmen« und »Prag« in den Gedichten des Winterreise-Zyklus, deren Namen man zwar auf den geografischen Landkarten finden kann, aber für die Dichterin gehörten sie zum »Haus Österreich«, das ihr das liebste Wort für ihr Herkunftsland war. Sie hat es von allem befreit, was einmal territoriale Herrschaft, Besitz und Machtpolitik war, und verwendete es für eine erträumte Welt, für das in Literatur verwandelte »Geisterreich« der Habsburgermonarchie, in welchem bei ihr die Länder, die Völker und ihre Sprachen und Träume aneinandergrenzen. [1] Marie Luise Wandruszka hat »Böhmen liegt am Meer« auch in seiner philosophischen Grundhaltung als »Gedicht des Glücks« bezeichnet und das Zugrundegehen nicht als Untergang verstanden, sondern als ein »Auf-den-Grund-Kommen«, als »Begreifen des Grunds der Dinge«. Hier werde nirgends in eine Gegenwelt geflüchtet, weil das Ich, zugrunde gegangen im Sinne der Mystik Meister Eckharts, auch die Welt besser sehen könne und die anderen Menschen (M. L. Wandruszka: Ingeborg Bachmanns »ganze Gerechtigkeit«. Wien: Passagen 2011, S. 65). [2] Ingeborg Bachmann: Frankfurter Vorlesungen. In: I. Bachmann: Kritische Schriften. Hg. v. Monika Albrecht u. Dirk Göttsche. München u. Zürich: Piper 2005, S. 313.
Tags